Demokratie_und_Aufloesung_von_Kleinstaaterei

Demokratie und Auflösung von „Kleinstaaterei“1

In der tiefsten Krise der EU verschärft sich der Konflikt zwischen Berlin und Paris. Die gesamt EU wartet darauf, dass sich Deutschland und Frankreich in der Frage der künftigen Euro-Architektur endlich auf einen Kompromiss verständigen. Doch die Vorstellungen liegen in Berlin und Paris weit auseinander.

Deutschland wolle der europäischen Ebene echte Durchgriffsrechte gegenüber den nationalen Parlamenten gewähren. Frankreich aber, dass es in Europa im Grundsatz so weitergeht wie bisher – und die Staats- und Regierungschefs das letzte Wort behalten. Scheinbar und von den Medien auch so interpretiert sind das Vorstellungen, die nicht unterschiedlicher sein könnten.

Durchgriffsrechte schaffen, um den Hort nationaler Kleingeisterei zu überwinden? „Kleinstaaterei“ eine andere Bezeichnung für nationale Kleingeisterei? Mit beiden Bezeichnungen wird zwar gleichermaßen kritisch ausgedrückt, die Folgen für den Staat, die zwangsläufig mit wirtschaftlichen Verflechtungen und Arbeitsteilungen über ein Land hinaus verbunden sind, nicht verstehen zu wollen, ignorieren zu können.



Kleiner Staat – großer Staat?

Doch „klein“ ist aber auch hier nur Bezeichnung für eine Relation. Und scheinbar wird deshalb mit „Kleinstaat“ oder auch Kleingeist eine aus einem Vergleich erscheinende Relation zwischen Staaten oder unterschiedlichen Verständnis davon verstanden. Doch während Land allgemein ein bis „zum Horizont“ erscheinender Teil der Erde ist, erscheint Staat nicht. Staat erscheint auch dann nicht für einen durch Grenzziehungen mit Hecken, Wällen, Zäunen, Mauern oder durch Flüsse, Seen, Meere markierten Teil der Erde, der nicht bis „zum Horizont“ reicht.

Für die Verwendung des Wortes Staat als Synonym für einen als Land verstandenen abgegrenzten Teil der Erde (Territorium) gibt es keinen Grund von Bedeutung. Staat als Synonym für Land verwendet, setzt nicht nur kleines Land mit kleinem Staat gleich. Mit dieser Gleichsetzung gelingt es aber, das Verständnis von „Kleinstaaterei“ zu verschleiern, auf das von nationaler Kleingeisterei zu beschränken.

„Kleinstaaterei“ zu verstehen, bedingt also nicht nur eine bestimmten Relation feststellen zu müssen, sondern auch, was mit „Staat“ zu verstehen ist. Das Verständnis von „Staat“ ist verbunden mit dem von der in (auf) einem Land lebenden Gesellschaft(en). „Staat“ hat die Verfügungsmacht über Mittel und Bedingungen, mit denen „Staat“ das Zusammenleben der Gesellschaft(en) sichert, sichern kann. Dieses charakteristische Merkmal mannigfacher Erscheinungen von Verfügungsmacht wird als „Staat“ bezeichnet.

Die Erde, ihre Mittel und Bedingungen des Lebens, ist Grundlage aller Verfügungsmacht. Und soweit diese Macht wirkt, grenzt sie ab, verfügt sie über ein damit abgegrenztes Land, aber auch über abgegrenzte Länder. Sie beherrscht die damit (auf ihnen) lebenden Gesellschaften, sichert ihr Zusammenleben.

Das herrschende Verständnis verschleiert mit den Bezeichnungen Staat, Reich, Union, Staatengemeinschaft die Beherrschung der Gesellschaft(en) durch eine Minderheit, welche Verfügungsmacht über Mittel und Bedingungen abgegrenzter Länder besitzt. Es verschleiert allerdings auch, dass Verfügungsmacht natürlich bedingt ist.

Historisch hatten diese Machtbereiche alle keinen Bestand. Sie wurden aufgelöst, integriert. Sie wurden also verändert infolge deren geänderten Mittel und Bedingungen und infolge veränderter Verfügungsmächtiger. Keine Verfügungsmächtige ohne Verfügungsohnmächtige, die im Interesse von Verfügungsmächtigen in meist kriegerischen Auseinandersetzung um das Verändern jeweiliger Machtbereiche ihre Lebensenergie opferten und opfern mussten.



Machtrelationen

Das Interesse Verfügungsmächtiger an einem Verändern ihres Machtbereichs resultiert aus ihrem Verständnis von der „wahren Macht wirtschaftlicher Natur“, die – auch als ihr Zwang empfunden – ein Verändern bedingt. Doch deren Verständnis davon bestimmt lediglich die Art und Weise des Veränderns. Deren charakteristisches Merkmal des durch die „wahre Macht wirtschaftlicher Natur“ verursachten mannigfach erscheinenden Veränderns wurde und ist durch das jeweils herrschende Verständnis bestimmt.

Mit dem jeweils herrschende Verständnis von der „wahren Macht wirtschaftlicher Natur“, verändern Verfügungsmächtige die Relationen zwischen Verfügungsmächtigen und zwischen diesen und Verfügungsohnmächtigen sowie zu den Mitteln und Bedingungen, mit denen das Zusammenleben der in (auf) einem Land lebenden Gesellschaft(en) gesichert werden kann.2

Ändern sich diese Relationen und werden sie (auch deshalb) so verändert, dass das Zusammenleben nicht mehr gesichert ist und werden kann, dann können die aus Macht einerseits und Ohnmacht andererseits resultierenden Konflikte zwischen Verfügungsmächtigen und zwischen diesen und Verfügungsohnmächtigen nicht (mehr) beherrscht werden. Das hat die Auflösung, das (gewaltsame) Auflösen des mit den bisherigen Relationen verbundenen Zusammenlebens zur Folge.



Auflösung von „Kleinstaaterei“

Auflösung von „Kleinstaaterei“ bezeichnet also nicht das Auflösen eines kleinen „Staates“ (erst recht nicht eines kleinen Landes), sondern die Änderungen bestehender Relationen, die mit dem herrschenden Verständnis davon verändert werden. Die Mittel und Bedingungen oder die Verfügungsmacht darüber werden als zu klein dafür verstanden, das Zusammenleben in einer Gesellschaft, das von Gesellschaften miteinander sichern zu können, Interessenkonflikte beherrschen zu können.

Das Auflösen von „Kleinstaaterei“ bringt deshalb scheinbar das gleiche Interesse Verfügungsmächtiger und Verfügungsohnmächtiger zum Ausdruck, mit diesem Verändern Frieden erhalten, Kultur bewahren zu wollen und zu können, nicht durch Interessenkonflikte zerstören zu lassen, gewaltlos verändern zu können. Scheinbar deshalb, weil mit diesem gleichen Interesse nicht die Ursache der Interessenkonflikte beseitigt oder auf Dauer beherrscht werden.

Auflösung von „Kleinstaaterei“ bedeutet deshalb auch nicht Bildung von Großstaaten. Auflösung von „Kleinstaaterei“ bedeutet eine durch die „wahren Macht wirtschaftlicher Natur“ bedingte Änderung von Relationen, in deren Folge Relationen zwischen Verfügungsmächtigen und zwischen diesen und Verfügungsohnmächtigen sowie zu den Mitteln und Bedingungen verändert werden.

Das Auflösen von „Kleinstaaterei“ in der Art und Wiese entsprechend dem herrschenden Verständnis von den Änderungen und dem Verändern der Relationen war und ist deshalb Folge des Konkurrenzkampfes Verfügungsmächtiger um immer größere Macht über Mittel und Bedingungen, um mehr Macht über größere Mittel und bessere Bedingungen. „Groß“ ist hier aber auch nur Bezeichnung für eine Relation, insbesondere zu der als „klein“ verstandenen.

Trotz der historisch sich entwickelten Art und Weise des Erlangens und Sicherns der Mittel und Bedingungen des Lebens, des Zusammenlebens blieb die Abhängigkeit von der „wahren Macht wirtschaftlicher Natur“ und blieb dessen charakteristisches Merkmal, weshalb die Interessenkonflikte zwischen Verfügungsmächtigen und zwischen diesen und den Verfügungsohnmächtigen weder zu beseitigen noch dauerhaft zu beherrschen waren und sind.



Die „Erfindung“ der Demokratie

Als eine Erkenntnis daraus erscheint die „Erfindung“ der Demokratie. Ursache zerstörerischer, Gesellschaften auflösende Interessenkonflikte sei die Missachtung (das fehlende Verständnis) des gleichen Interesses aller Menschen, in freier Selbstbestimmung leben zu wollen, in Frieden miteinander leben zu wollen. Es sei deshalb auch ihr Interesse an einer ihr Zusammenleben sichernden Macht, an einen Staat, der über der Gesellschaft stünde, stehen müsse.

Es ist das herrschende Verständnis einer Minderheit mit Verfügungsmacht. Mit dem auch deren (Macht-) Legitimation begründet wird. Es wäre nicht eine Minderheit, sondern der Staat habe die Macht und müsse mit dieser für die Sicherung des friedlichen Zusammenlebens sorgen, handeln. Über das Wie und vor allem von wem sowie mit welchen Mitteln und Bedingungen diese Macht ausgeübt werde, bestimme aber das Volk, also nicht eine Minderheit, sondern eine Mehrheit (Demokratieprinzip).

Veränderungen, welche die „wahren Macht wirtschaftlicher Natur“ bedinge, erzwinge, könnten durch Demokratie bestimmt werden. Die Art und Weise des Veränderns könnte demokratisch so bestimmt werden, dass die Folgen daraus für das Zusammenleben beherrscht werden. Wirtschaftliche Verflechtungen und Arbeitsteilung, auch über ein Land hinaus, seien demokratisch bestimmbar, die Folgen daraus demokratisch beherrschbar.

Das herrschende Verständnis von Demokratie ist also mit dem von einem Land, von der (den) in diesem Land lebenden Gesellschaft(en) und dessen Staat verbunden. Dieses Verständnis stößt an seine Grenzen, die Folgen der grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Verflechtungen und Arbeitsteilungen mit dem Demokratieprinzip erklären zu können.



Vergemeinschaftung und Demokratie

Die Konzentration (der Zusammenschluss) von Verfügungsmacht – ein Ergebnis des als und im II. Weltkrieg ausgetragenen Konkurrenzkampfes -, wurden und werden als Vereinbarungen von Staaten verstanden und erklärt. Sie seien vor allem als Vereinbarungen zur Vergemeinschaftung wirtschaftlicher Tätigkeiten zu verstehen.

Diese als Vergemeinschaftung bezeichneten vereinbarten Veränderungen von Verfügungsmacht, sind ein charakteristisches Beispiel. Zum einen für die immer globaler wirkende „wahre Macht wirtschaftlicher Natur“. Zum anderen für das herrschende Verständnis davon, die dadurch bedingten Änderungen mit Vergemeinschaftung wirtschaftlicher Tätigkeiten friedlich gestalten (verändern) zu können.

Mit dieser Vergemeinschaftung, zunächst als „Europäische Gemeinschaft“ und mit weiteren Vereinbarungen als „Europäischen Union“ (als Staatenverbund) bezeichnet, sollten kriegerischen Auseinandersetzungen als Erscheinungen des Konkurrenzkampfes zwischen Staaten Europas verhindert werden. Eine aus der Vergemeinschaftung entstehende größere Verfügungsmacht könnte darüber hinaus im Konkurrenzkampf mit globalen größeren Verfügungsmächten besser bestehen.

Es ist also ein charakteristisches Beispiel für das herrschende Verständnis von der „wahren Macht wirtschaftlicher Natur“ und von Demokratie. Einerseits für einen erfolgreichen Konkurrenzkampf die dazu notwendigen Mittel und das Bestimmen seiner Bedingungen zu konzentrieren. Andererseits durch demokratisch legitimierte Vereinbarungen von Staaten die Art und Weise dieser Konzentration, Frieden erhaltend bestimmen zu können.

Mit dieser als Vergemeinschaftung bezeichneten Konzentration, mit deren Folgen für die Demokratie und dem herrschenden Verständnis dazu hat sich das Bundesverfassungsgericht Deutschlands (BVerfG) tiefgründig auseinandergesetzt. Sie führte auch das BVerfG zu der Erkenntnis vom Widerspruch des herrschenden Verständnisses, mit Vergemeinschaftung wirtschaftlicher Tätigkeiten könnten sowohl die durch die „wahre Macht wirtschaftlicher Natur“ bedingten Änderungen beherrscht als auch dabei das Demokratieprinzip bewahrt werden.

Mit Entscheidungen und Begründungen in seinen Urteilen zu den in Verfassungsbeschwerden genannten Folgen einer als immer tieferen Vergemeinschaftung bezeichneten Entstaatlichung der Mitgliedstaaten der „Europäischen Union“ hat das BverfG am 12.September 2012 scheinbar sein jahrelanges Ringen um sein Verständnis von diesem Widerspruch abgeschlossen. Der Zusammenhang – das Verständnis - von Verfassungsidentität, von Integrationsverantwortung und von der Bewahrung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (im Weiteren auch GG genannt) dürfe nicht in falsches Fahrwasser geraten.

Es war also – wie rückblickend auf seine früheren Urteile zu Verfassungsbeschwerden die „Europäische Union“ betreffend zu erkennen ist – nur ein letzter Versuch anzumahnen, die weitere Konzentration von Verfügungsmacht (weitere Vergemeinschaftung) demokratisch so zu bestimmen, dass die bestehende Ordnung (das GG), der bestehende Staat erhalten bleibt, nicht aufgelöst werde.

Denn die mit dem Vertrag über die Europäische Union vom Februar 1992, dem sogenannten Vertrag von Maastricht, begonnene weitere, tiefere Vergemeinschaftung stellten das Verständnis von den Bestimmungen des GG – insbesondere zu den seiner Artikel 23, 24, 79 – und damit das zur Bewahrung des GG in Frage. Das BVerfG wollte deshalb mit seinem Urteil das Verständnis dazu bestimmen:

Der Unionsvertrag begründet einen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der - staatlich organisierten - Völker Europas, keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat. Und: Die Kompetenzen und Befugnisse, die der Europäischen Union und den ihr zugehörigen Gemeinschaften eingeräumt sind, bleiben, soweit sie durch Wahrnehmung von Hoheitsrechten ausgeübt werden, im wesentlichen Tätigkeiten einer Wirtschaftsgemeinschaft.

Die zentralen Tätigkeitsfelder der Europäischen Gemeinschaft sind insoweit die Zollunion und die Freiheit des Warenverkehrs (Art. 3 Buchst. a EGV), der Binnenmarkt (Art. 3 Buchst. c EGV), die Rechtsangleichung zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Gemeinsamen Marktes (Art. 3 Buchst. h EGV), die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten (Art. 3 a Abs. 1 EGV) und die Entwicklung einer Währungsunion (Art. 3 a Abs. 2 EGV).3

Das BverfG hatte zwar damit wie für die bis dahin vollzogene Vergemeinschaftung eine dem GG entsprechende Antwort, auch auf die Verfassungsbeschwerden, gefunden. Doch alle diese Antworten machten weitere Entscheidungen des BverfG, insbesondere später dann zum „Lissabon-Vertrag“ und vor allem zu Verträgen und Vertragsänderungen zum Erhalt der Zahlungsfähigkeit der Länder (der Staaten) mit der Währung Euro nicht überflüssig. Im Gegenteil!

Die als Problem verstandenen immer größer gewordenen Staatsverschuldungen, dieses Verständnis von dem auch als Krise bezeichneten Zustand der Entwicklung und des Entwickelns der „Europäische Union“, insbesondere der Länder, die als Währung den Euro haben, wurden von Regierungen europäischer Länder und von der Europäischen Kommission immer mehr als Begründung dafür angegeben, dass mit Verträgen, Vertragsänderungen und Begleitgesetzen weitere Vergemeinschaftung zu beschließen, zu vereinbaren waren, zu beschließen, zu vereinbaren seien.4

Weil aber damit eine Krisenbewältigung nicht zu erkennen war und ist, wurde offensichtlich immer mehr fragwürdig, ob - mit dem „Vertrag von Maastricht“ beginnend – das GG nicht nur „seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt“ wurde, sondern damit auch bereits die Verfassungsidentität des Grundgesetzes gebrochen worden war oder wird. Denn trotz Bewahrung des Demokratieprinzips und der weiteren Vergemeinschaftung wurde die Krise nicht bewältigt.

Die Verfassungsbeschwerden gegen Begleitgesetze zu Verträgen, Vertragsänderungen, mit denen eine immer weitere, tiefere Vergemeinschaftung vereinbart, beschlossen wurde, richteten sich – so das Verständnis der Beschwerdeführer – gegen einen damit einhergehenden Verlust der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland. Verlust der Budgethoheit, Verlust demokratischer Mitbestimmung, Verletzung des Demokratieprinzips.



Europäische Integration - Verfassungsidentität

Dem gegenüber erklärten die Regierungen und die Europäischer Kommission, dass für die Krisenbewältigung diese Vergemeinschaftung alternativlos sei.Das BverfG musste also eine abschließende Antwort zu der Frage geben: Entspricht das mit diesen Verträgen und Vertragsänderungen sowie mit den Begleitgesetzen dazu bestimmte Mitwirken der Bundesrepublik Deutschland an der europäischen Integration dem Grundgesetz, und wird mit diesem Mitwirken und seinen Folgen die Verfassungsidentität des GG gewahrt oder nicht?

Eine dem GG entsprechende Antwort dazu bedeutet(e) also vor allem5 eine das GG bewahrende Entscheidung des BverfG. Eine Entscheidung, wie der im GG formulierte Zusammenhang „Europäische Union - Grundrechtsschutz – Subsidiaritätsprinzip“, „Übertragung von Hoheitsrechten“ - „Kollektives Sicherheitssystem“ und „Änderung des Grundgesetzes“ zu verstehen und zu verwirklichen sei.

Das BVerfG musste also zu (seinem) einem grundgesetzgemäßen Verstehen des Mitwirkens der Bundesrepublik Deutschland an der Entwicklung der „Europäischen Union“ und damit vor allem ihres Mitwirkens an der Bewältigung deren Krise entscheiden. Es musste erklären, wie der Zusammenhang von Integration (Machtkonzentration) und Bewahrung des Demokratieprinzips als verfassungskonforme Vergemeinschaftung zu verstehen sei.

Mit einem verfassungskonformen Verstehen der Vergemeinschaftung sollte also die Frage beantwortet werden, ob mit einer (tieferen) europäischen Integration die Krise der Entwicklung der „Europäischen Union“ noch bewältigt werden kann oder nicht, und ob die dafür als alternativlos erachtete und eingeleitete Integration der Bundesrepublik Deutschland in die „Europäische Union“ dem GG entspricht, demokratisch erfolgt(e), oder nicht.    

Zwar hat das BverfG mit den Begründungen seiner Entscheidungen zu den bisherigen Verfassungsbeschwerden zur europäischen Integration der Bundesrepublik Deutschland scheinbar jeweils sein gleiches Verstehen dazu zum Ausdruck gebracht. Die „Europäische Union“ seiin ihrer vertraglich festge­schriebenen Grundstruktur lediglich eine von Staaten getragene Einrich­tung.

Im Mittelpunkt stünden mit Blick auf die Mitgliedstaaten der „Europäischen Union“ der Souveränitätsbegriff, die Herrschaft über die Verträge, die Kompetenz-Kompetenz und die Verfassungsidentität. Die mit den Verträgen, Vertragsänderungen und Begleitgesetzen übertragene Hoheitsgewalt sei entsprechend dem GG lediglich eine abgeleitete öffent­lichen Gewalt und zwar nach dem Prinzip der Einzelermächtigung. Über allem stünde die Wahrung der demokratischen Legitimation im Inte­grationsprozess.



Demokratisch legitimierter Integrationsprozess

Doch dieses Verständnis des BverfG von demokratischer Legitimation ist mit dem vom Volk als Legitimationssubjekt verbunden. Mit seiner Definition, Volk gleich staatsangehörige Bürger, schließt es logisch, dass ein europäisches Volk Voraussetzung wäre für eine demokratisch legitimierte Bildung eines europäischen Bundesstaates, für die Bildung einer Europäischen Union als Bundesstaat

Doch das wäre nicht das Verständnis vom Angehörigsein sondern das vom Angehörigwerden. Denn für das Angehörigsein brauchte der Bundesstaat nur gebildet werden. Im Angehörigwerden kommt das Verständnis zum Ausdruck, dass das Volk im Integrationsprozess mitgenommen werden, ihn verstehen müsse und damit auch, dass es die Auflösung seines (Klein-)Staates mit der Bildung dieses Bundesstaats wolle.

„Verfassungen aber sind wesentliche `Integrationsordnungen`; sie dienen dem Ziel, die politischen und gesellschaftlichen Konflikte innerhalb eines Gemeinwesens derart in Form zu bringen, daß die Macht- und Interessenkämpfe auf friedliche Weise ausgetragen werden und die Menschen in Freiheit und Gleichheit solidarisch miteinander leben können.“6 Verfassungen könnten also demnach auch Voraussetzung, Mittel des Angehörigwerdenssein.

"Das Grundgesetz weist . . . nach wie vor einen erheblichen Legitimationsmangel auf, der auch nicht dadurch beseitigt wird, daß das Grundgesetz . . . (seit) seines Bestehens breite Akzeptanz gefunden hat.“7 Obwohl also das GG 1949 nicht demokratisch legitimiert verabschiedet wurde, wurde es doch zu einem wesentlichen Mittel für das Angehörigwerden zu und in einem anderen Angehörigsein.

Das Verstehen demokratischer Legitimation im Integrationsprozess konnte das BVerfG also nicht mit dem Hinweis auf ein Grundgesetz begründen, das selbst einen „erheblichen Legitimationsmangel“ besitzt. Allerdings auch nicht mit dem GG, dass die Wahrung der demokratischen Legitimation im Inte­grationsprozess über allem stünde. Denn auch das wäre begründungs- und legitimationsbedürftig.

Dem BVerfG blieb daher nur die Annahme, daß die Entstehung allen Rechts (und so auch der Verfassung) begründungs- und legitimationsbedürftig sei. Doch diese ist wiederum nicht damit zu begründen, dass für diese Annahme stillschweigend bereits ein rechtsstaatlicher Gedanke vorausgesetzt werden kann, vorauszusetzen ist. Ebenso wenig stillschweigend ein Gedanke, dass dieser wie der für Legitimation so auch der für Begründungsdürftigkeit als ein demokratischer vorausgesetzt werden kann.

Dass die Wahrung der demokratischen Legitimation im Inte­grationsprozess über allem stünde, dieses Verständnis des BverfG ist mit seinem von Demokratie verbunden: Das Wahlrecht (Art. 38 Abs. 1 GG) gewährleistet als grundrechtsgleiches Recht die Selbstbestimmung der Bürger und garantiert die freie und gleiche Teilhabe an der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt (vgl. BVerfGE 37, 271 <279>; 73, 339 <375>; 123, 267 <340>). Sein Gewährleistungsgehalt umfasst die Grundsätze des Demokratiegebots im Sinne von Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG, die Art. 79 Abs. 3 GG als Identität der Verfassung auch vor dem Zugriff durch den verfassungsändernden Gesetzgeber schützt.8

Die Gefährlichkeit, die sich aus einem solchen Verständnis entfalten kann, ist in vielen historischen Ereignissen zur Wirkung gekommen. Denn es verhindert(e) nicht, dass aus ihm auch logisch abgeleitet werden kann, auch die Selbstzerstörung eines Volkes wäre dann demokratisch legitimiert, wenn sie Folge seiner Wahl(en) ist. Weder schützen also davor diese Grundsätze des Demokratiegebots, weil auch nicht vor dem Zugriff durch den „verfassungsändernden Gesetzgeber“, noch vor einem beliebigen Verständnis von Verfassungsidentität, von deren Bewahrung.

In seinem Urteil vom 30.06.2009 (BverfG, 2 BvE 2/08 vom 30.06.2009, Absatz-Nr. (1-.421) wird zu dessen Begründung vom BverfG das Wort Verfassungsidentität mehrmals mit unterschiedlichem Tenor verwendet: Grundsätze, die Art. 79 Abs. 3 GG als Identität der Verfassung festschreibt - Identität der freiheitlichen Verfassungsordnung – nach Art. 79 Abs. 3 GG grundlegenden Verfassungsprinzipien – Achtung der verfassungsrechtlichen Identität – die integrationsfeste Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten, der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität.

Und zusammenfassend: Das Grundgesetz erlaubt es den besonderen Organen der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung nicht, über die grundlegenden Bestandteile der Verfassung, also über die Verfassungsidentität zu verfügen (Art. 23 Abs. 1 Satz 3, Art. 79 Abs. 3 GG). Die Verfassungsidentität ist unveräußerlicher Bestandteil der demokratischen Selbstbestimmung eines Volkes.

Alle zu dieser Zeit (über 50) bisherigen Veränderungen des Grundgesetzes, die jeweils einzeln vom BVerfG nicht als Verletzung des GG beurteilt wurden, stell(t)en aber mit jeder weiteren immer mehr in Frage, ob damit noch das GG insgesamt, seine Verfassungsidentität9, gewahrt worden ist, bleibt, nicht verletzt wird, und womit und woran diese Frage beantwortet werden könnte.

Offenbar bewegte diese Frage das BverfG, sie in seinem Verständnis zu beantworten und dafür mit dem Wahlrecht als grundrechtsgleiches Rechtden Prüfungsmaßstab zu bestimmen. Das Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, ist der elementare Bestandteil des Demokratieprinzips.

Die Prüfung einer Verletzung des Wahlrechts umfasst in der hier gegebenen prozessualen Konstellation auch Eingriffe in die Grundsätze, die Art. 79 Abs. 3 GG als Identität der Verfassung (vgl. BVerfGE 37, 271 <279>; 73, 339 <375>) festschreibt. Denn das GG erklärt den legitimatorischen Zusammenhang zwischen dem Wahlberechtigten und der Staatsgewaltfür unantastbar.10

Es gelang aber dem BverfG dabei nicht, Verfassungsidentität so zu definieren, dass dieses Wort nicht beliebig verstanden, dass dieses Wort als Begriff verwendet werden kann. Offenbar überwand das BverfG nicht die Ideologie von einer Hierarchie der Wertordnung, die für das GG, für dessen Bestimmungen, feststellbar wäre.

Zwar sind verschiedene Zusammenhänge für verschiedene Bestimmungen des Grundgesetzes feststellbar, doch für diese – und damit für die einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes - kann weder eine verschiedene Wertigkeit noch eine Rangordnung (Hierarchie) festgestellt werden. Freilich, die Intension der „Väter“ des Grundgesetzes kann nicht mehr für ein (für deren) Verständnis von Verfassungsidentität verwendet werden.

Mit der Ideologie, dass stillschweigend ein rechtsstaatlicher Gedanke dafür vorausgesetzt werden kann, vorauszusetzen ist, dass nicht nur die Entstehung allen Rechts (und so auch der Verfassung) begründungs- und legitimationsbedürftig sei, sondern deshalb auch deren Bewahrung, der Bewahrung von Verfassungsidentität, geriet das BverfG in einen Gegensatz zur Wirklichkeit der Abhängigkeit(en) – auch des Rechts - von den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen.

Eine notwendige Bedingung für die Sicherung politischer Freiräume im Sinne des Identitätskerns der Verfassung (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG) besteht darin, dass der Haushaltsgesetzgeber seine Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben frei von Fremdbestimmung seitens der Organe und anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union trifft und dauerhaft „Herr seiner Entschlüsse“ bleibt (vgl. BVerfGE 129, 124 <179 f.>).11

Das BverfG entsprach damit den Verfassungsbeschwerden, die sich gegen Begleitgesetze zu weiterer Vergemeinschaftung richteten, insbesondere zum „ESM-Vertrag“ und „Fiskalpakt“, weil mit denen der Verlust der Budget-Hoheit ermöglicht worden sei. Maßstab für das BVerfG zur Beurteilung der Verfassungsbeschwerde konnte hierfür aber nicht demokratisch legitimiert sein, denn diese Begleitgesetze waren mit Zweidrittel-Mehrheit des Deutschen Bundestages demokratisch beschlossen.

Das BverfG musste also berücksichtigen, dass die Sicherung politischer Freiräume von Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben, mit denen das Volk dauerhaft „Herr seiner Entschlüsse“ bleibt, bleiben kann, also abhängig von der „wahren Macht wirtschaftlicher Natur“ ist, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt.

Die Abhängigkeit eines „Staates“ von seiner Verfügungsmacht überEinnahmen und Ausgaben, mit denen er das Leben der Mitglieder der Gesellschaft, ihr Zusammenleben sichert, sichern kann, ist die Abhängigkeit auch seiner Existenz davon. Zu kleine Verfügungsmacht löst ihn auf. Verfügungsohnmacht darüber beendet seine Existenz.

Diese als Wirklichkeit feststellbare und vom BverfG erkannte Abhängigkeit weist nicht nur darauf hin, dass demokratisch legitimierte Entscheidungen zwar notwendige aber keine hinreichenden Bedingungen dafür sind, dass das Volk dauerhaft „Herr seiner Entschlüsse“ bleibt, bleiben kann. Worüber es nicht (mehr) die Macht hat zu verfügen, kann es auch darüber nicht (mehr) demokratisch legitimiert verfügen.

Hier erkennt das BVerfG auch den Widerspruch seines Verständnisses, dass die Wahrung der demokratischen Legitimation im Inte­grationsprozess über allem stünde, die „wahre Macht wirtschaftlicher Natur“ demokratisch legitimiert werden könne, aber andererseits demokratisch legitimierter Entscheidungenabhängig davon sind, dazu und damit über Einnahmen und Ausgaben verfügen zu können.



Vorverständnis – Sachkompetenz – Auslegung- Ultra-vires-Kontrolle

Weil aber auch das BVerfG nicht die Ideologie in Frage stellen konnte und wollte, aus der dieser Widerspruch und auch sein Verständnis (nicht nur dazu) resultiert, konnte es nur erklären, dass es ihm an eigener Sachkompetenz fehlt festzustellen, ab wann nicht mehr das Volk dauerhaft „Herr seiner Entschlüsse“ bleibt, bleiben kann

Aber das Bundesverfassungsgericht kann sich hier nicht mit eigener Sachkompetenz an die Stelle der dazu zuvörderst berufenen Gesetzgebungskörperschaften setzen (BVerfGE 129, 124 <183>). Es hat jedoch sicherzustellen, dass der demokratische Prozess offen bleibt, aufgrund anderer Mehrheitsentscheidungen rechtliche Umwertungen erfolgen können (vgl. BVerfGE 5, 85 <198 f.>; 44, 125 <142>; 123, 267 <367>)12,13

Das BVerfG wollte nicht mit eigener Sachkompetenzbeurteilen, ob das Volk dauerhaft „Herr seiner Entschlüsse“ bleibt, bleiben kann, aber mit eigener Sachkompetenz die Folgen des Lissabon-Vertrages dazu auslegen und zwar entgegen der Auslegung, auf die sich Verfassungsbeschwerden zu diesem Vertrag gründeten. Es bestünde ein Sachzusammenhang zwischen Demokratieprinzip als oberstes Gebot und der mit dem Lissabon-Vertrag vereinbarten vertiefenden Integration.

Das BVerfG beurteilte, legte damit aus, dass die demokratisch beschlossene Zustimmung zum Lissabon-Vertrag und zu Begleitgesetzen dazu mit Sachkompetenz erfolgte. Die Abgeordneten hätten die Kompetenz (also auch die Fähigkeit und nicht nur die Zuständigkeit) zur Auslegung. Also die Fähigkeit, den Zusammenhang von Gewolltem und dessen Folgen zu verstehen, und die Zuständigkeit, das verstandene Gewollte und dessen Folgen beschließen oder ablehnen zu können.

Doch dieses Verstehen ist weder Kraft Zusammenhangs gegeben noch ist es ein Verstehen nach dem Sin und Zweck einer Norm, Resultat einer besonderen Art teleologischen Auslegung. Denn – so auch das BVerfG -: Das Verstehen und damit auch politischen Entscheidungen sind in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen.

Diese Vorverständnisse sind aber Ausdruck des herrschenden Verständnisses, mit dem das Verstehen beherrscht wird. Deshalb weist das BVerfG nur scheinbar auf eine Möglichkeit hin, die scheinbar von diesem herrschenden Verständnis unabhängig ist:Innerhalb der deutschen Jurisdiktion muss es zudem möglich sein, die Integrationsverantwortung im Rahmen einer Identitätskontrolle einfordern zu können. Das Bundesverfassungsgericht hat hierfür bereits den Weg der Ultra-vires-Kontrolle eröffnet, die im Fall von Grenzdurchbrechungen bei der Inanspruchnahme von Zuständigkeiten durch Gemeinschafts- und Unionsorgane greift.

Mit diesem Hinweis kommt zwar eher sein Zweifel zum Ausdruck, damit feststellen zu können, ob Integration nach Norm, Kraft Zusammenhangs, mit Auslegungskompetenz nicht nur verstanden wurde, sondern verfassungskonform gestaltet wird, werden kann. Mit ihm kommt aber nicht sein Zweifel zu Ausdruck, dass mit dem Demokratieprinzip als oberstes Gebot die immer weitere, tiefere Vergemeinschaftung mit den Bezeichnungen „Europäische Union“ und „Euro-Zone“ seit 1993 erfolgte.



Vergemeinschaftung als allein folgerichtige Erscheinung

Weder die Ziele, mit denen diese weitere, tiefere Vergemeinschaftung - mit den Bezeichnungen „Europäische Union“ und „Euro-Zone“ - seit 1993 begründet wurden, noch die Kriterien (Stabilitätskriterien), anhand deren geprüft, festgestellt werden sollte, dass sie für diese Vergemeinschaftung erfüllt worden sind, eingehalten werden, sind in 20 Jahren erreicht, erfüllt, eingehalten worden.

Feststellbar ist: Anstelle einer Stabilitätsgemeinschaft erscheinen nach 20 Jahren vertiefter Integration - als ihr charakteristisches Merkmal - die Staaten (Mitgliedsländer) als eine Gemeinschaft von Schuldnern. Als eine Vergemeinschaftung, welche die Folgen der „wahren Macht wirtschaftlicher Natur“ weder verstanden noch berücksichtigen hat.

Über eine möglichst weitgehende wirtschaftliche Verflechtung, über einen Gemeinsamen Markt, sollte die praktische Notwendigkeit politischer Vergemeinschaftung herbeigeführt werden, und es sollten Handels- und Wirtschaftsbedingungen entstehen, die eine politische, auch außen- und sicherheitspolitische Einheit dann als allein folgerichtig erscheinen lassen würden.

Doch woraus und wofür sollte sich eine praktische Notwendigkeit politischer Vergemeinschaftung ergeben, wenn diese Vergemeinschaftung (nur) als allein folgerichtig erscheint? Ein logischer Schluss erscheint nicht. Er ist Ausdruck des aus Verstandenem richtig Gefolgerten. Es ist das mit herrschendem Verständnis Gefolgerte, was nun als Staatenverbund, als Vergemeinschaftung bezeichnet wird und deshalb einem beliebigen Verstehen überlassen bleibt.

Wirtschaftliche Verflechtungen sind nicht Folge eines Willens zur politischen Vergemeinschaftung. Stabilitätskriterien werden nicht deshalb erfüllt und damit auch nicht deshalb eingehalten, weil sie politisch gewollt sind. Politischer Wille ist keine hinreichende Bedingung, Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Und (Euro-)Währungsunion istkein hinreichendes Mittel für die Konkurrenzfähigkeit der (Real-)Wirtschaft der Euro-Länder und damit für den Euro.

Die Folgen der „wahren Macht wirtschaftlicher Natur“, als Krise bezeichnet, sind in den 20 Jahren seit „Maastricht Vertag“, also in den wirtschaftlichen und politischen Einschätzungs- und Prognoseräumen, mit der weiteren, tieferen Vergemeinschaftung nicht beherrscht, nicht verändert worden. Doch die Mitwirkung an dieser Art und Weise der Vergemeinschaftung ist von denjenigen mit zweidrittel Mehrheit beschlossen worden, welchen in freien und gleichen Wahlen Kompetenz dazu übertragen wurde (Demokratieprinzip).



Geldpolitische Vergemeinschaftung

Die Einführung des Euro als Währung für (jetzt) 17 Länder ist keine folgerichtige Erscheinung. Sie war gewollt: geldpolitisch gewollt. Die Abhängigkeit der Wirtschaft der Länder, deren „Kleinstaaten“, aufgrund ihrer mangelnden Konkurrenzfähigkeit, die als mangelnden Konkurrenzfähigkeit ihrer jeweiligen Währungen verstanden wurde, sollte mit dieser gemeinsamen Euro-Währung überwunden werden. Sie war also eine folgerichtige Entscheidung eines geldpolitischen herrschenden Verständnisses von der „wahren Macht wirtschaftlicher Natur“ in ihrer geldpolitischen Erscheinung.

Geldpolitik als Bezeichnung für die Ausübung von Verfügungsmacht über viel Geld im Interesse, damit mehr Geld zu realisieren. Geldpolitik ist also keine von dieser Verfügungsmacht unabhängige und auch deshalb auch keine demokratisch legitimierte. Abhängig von dieser Geldpolitik sind aber alle anderen Politikbereiche. Deren Art und Weise von Politik ist alsoabhängig davon, was für Geldpolitik demokratisch legitimiert beschlossen wird und alternativlos beschlossen werden darf und muss.

Das Einlösungsvertrauen (des Geldwertes) stützt sich in Zukunft nicht mehr auf die staatlich verfaßte Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland, sondern wird von einer anderen Rechtsgemeinschaft und der sie stützenden Wirtschaftskraft getragen. Garant fü den Euro-Geldwert sei nicht mehr der deutsche Staat und die in Deutschland vorhandene Wirtschaftskraft sind. Dieser nationale Garant wird vielmehr durch die Teilnehmerländer an der Währungsunion und die ihnen zugehörenden Volkswirtschaften ersetzt.14

Scheinbarist damit das Demokratieprinzip verletzt. Verletzt ist aber nicht das Demokratieprinzip, sondern das herrschende Verständnis von Demokratie ist Widerspruch zur Wirklichkeit der „wahren Macht wirtschaftlicher Natur“, hier in ihrer geldpolitischen Erscheinung. Das BVerfG musste deshalb, mit diesem herrschenden Verständnis– auch zu dessen Legitimation –, diesen Widerspruch erklären.

Mit Geldpolitik werde Weisungsbefugnis von Hoheitsträgern und - außerhalb einer Vertragsänderung - zugleich der gesetzgeberischen Kontrolle von Aufgabenbereichen und Handlungsmitteln entzogen15. Diese Einschränkung der von den Wählern in den Mitgliedstaaten ausgehenden demokratischen Legitimation berührt das Demokratieprinzip, ist jedoch als eine in Art. 88 Satz 2 GG vorgesehene Modifikation dieses Prinzips mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar.16

Diese Modifikation sei also, weil mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen, demokratisch legitimiert und damit auch, dass die Einflußmöglichkeiten des Bundestages und damit der Wähler auf die Wahrnehmung von Hoheitsrechten durch europäische Organe nahezu vollständig zurückgenommen (sind), soweit die Europäische Zentralbank mit Unabhängigkeit gegenüber der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten ausgestattet wird (Art. 107 EGV)17. Doch das habe jedenfalls das BVerfG nicht zu verantworten.

Die Zuordnung von Entscheidungen zu bestimmten verantwortlich Handelnden verliert an Transparenz mit der Folge, dass die Bürger sich bei ihrem Votum kaum an greifbaren Verantwortungszusammenhängen orientieren können. Das Demokratieprinzip setzt deshalb der Übertragung von Hoheitsrechten inhaltliche Grenzen, die nicht bereits aus der Unverfügbarkeit der verfassungsgebenden Gewalt und der staatlichen Souveränität folgen.

Die Währungsunion ohne eine gleichzeitige oder unmittelbar nachfolgende politische Union zu vereinbaren und ins Werk zu setzen, ist eine politische Entscheidung, die von den dazu berufenen Organen politisch zu verantworten ist. Die vereinbarte Mitwirkung könne aber - als ultima ratio - beim Scheitern der Stabilitätsgemeinschaft auch einer Lösung aus der Gemeinschaft nicht entgegenstehen.

Die Währungsunion ist also eine geldpolitische Union, die nach einem modifizierten Demokratieprinzip gebildet wird. Eine Union von und der Verfügungsmächtigen über viel Geld, die sie mit ihrer weiteren Konzentration vergrößern (wollen). Alle bisherigen Macht-Relationen wurden und werden dadurch verändert, aufgelöst. Die dafür ausgewählten – in freien und gleichen Wahlen bestimmten – Politiker haben nicht nur Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, sondern auch Institutionen und entgegenstehende „Kleinstaaterei“, Kleingeisterei zu überwinden.

Die Europäische Kommission sei bereits auf der Grundlage des geltenden Rechts in die Funktion einer - mit Rat und Europäischem Rat geteilten - europäischen Regierung hineingewachsen. Es sei nicht ersichtlich, wie dieser Prozess der politischen Verselbständigung noch weiter gefördert werden könnte ohne die unmittelbare Rückbindung an eine gleichheitsgerechte Wahl durch den Demos, die die Abwahlmöglichkeit einschließt und dadurch politisch wirksam wird.

„Politische Verselbständigung“ einerseits verbunden mit „zurückgenommenen Einflussmöglichkeiten“ andererseits sind Wirkungserscheinungen konzentrierter und konzentrierender Geldpolitik. Der Hinweis des BVerfG, es sei deshalb beim gegenwärtigen Integrationsstand nicht geboten, das europäische Institutionensystem demokratisch in einer staatsanalogen Weise auszugestalten, kann auch als Feststellung dieser Wirkungserscheinung verstanden werden.

Denn „verfassungskonform“ sei auch: Art. 109a Satz 1 Nr. 1 GG in Verbindung mit dem hierzu ergangenen Stabilitätsratsgesetz (BGBl I 2009 S. 2702) sieht zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen die Einrichtung eines Stabilitätsrates zur fortlaufenden Überwachung der Haushaltswirtschaft vor, mithin . . . eine institutionalisierte Form der Überwachung der materiellen Haushaltskriterien.

Auch hierbei und dadurch entsteht einepolitische Verselbständigung“ verbunden mit „zurückgenommenen Einflussmöglichkeiten“ der Landesparlamente. „Kleinstaaterei“ wird aufgelöst. Das Bundesrecht bricht aufgrund der grundgesetzlichen Anordnung entgegenstehendes Landesrecht (vgl. Art. 31 GG). Das durch die Landesparlament demokratisch Beschlossene wird derogiert durch ein modifiziertes Demokratieprinzip.

Eine solche rechtsvernichtende, derogierende Wirkung entfaltet das supranational begründete Recht nicht. Aber „Rechtsakte ohne Gesetzescharakter“, die über jene Möglichkeiten hinaus fortentwickelt werden können, die eine Auslegung nach dem Prinzip des effet utile oder eine implizite Abrundung der übertragenen Zuständigkeiten bieten, mit denen die durch besondere Rechtsakte auf der Unionsebene mit klarem Inhalt versehen werden und Entscheidungsverfahren dort eigenständig verändert werden können.

Die aus dieser Möglichkeit der Fortentwicklung und Auslegung von Kompetenz-Übertragung resultierende derogierende Wirkung müsse deshalb auch als demokratisch verstanden werden. Zwar nicht durch das Recht begründet, aber mit der „Rettung des Euro“, weil diese alternativlos sei und deshalb demokratisch vereinbart und beschlossen wurde.

Deutschland und Frankreich unterscheiden sich nicht in ihrem Verständnis von einer künftigen Euro-Architektur. Beide wollen (und sollen) eine geldpolitische Union, echte Durchgriffsrechte gegenüber den nationalen Parlamenten mit derogierender Wirkung auf deren Haushaltsrechte. Über die Ausübungder dadurch konzentrierten größeren Macht wollen die Staats- und Regierungschefs das letzte Wort behalten.

Dem BVerfG ist dazu nur die Erklärung ermöglicht wurden, dass zu dem mit diesem Auflösen von „Kleinstaaterei“ im Interesse einer geldpolitischen Union verbundenen Identitätswechsel der Bundesrepublik Deutschland undzuder damit einhergehenden Ablösung des Grundgesetzes,die Wahlberechtigten in freier Entscheidung zu befinden hätten.

Wer dieses Befinden bewirkt, wer diese freie Entscheidung als demokratische Wahl veranlasst, das zu bestimmen, dazu konnte das BVerfG auf zwei Möglichkeiten verweisen: Entweder die Integrationsverantwortung im Rahmen einer Identitätskontrolle einfordern zu können oder ein in seinem Identitätskern durch derogierende Wirkungen geändertes Grundgesetz alseineneue demokratisch entstandene Verfassung, sie sei allein folgerichtig erschienen, verstehen zu können.

Es ist das herrschende Verständnis von Demokratie und Auflösung von „Kleinstaaterei“!


 

nach oben

1 auch in diesem Artikel sind in kursiv geschriebene Aussagen oder Worte diejenigen, mit denen herrschendes Verständnis zum Ausdruck kommt. Quellen, woraus diese entnommen sind, wurden in Fußnoten nur dann angegeben, wenn damit das Lesen von Zusammenhängen, in denen die übernommenen Aussagen stehen, empfohlen wird. Generell wird aber das Lesen der Urteile des BVerfG zu Demokratie und Auflösung von „Kleinstaaterei“ empfohlen.

2 Das Verständnis von diesen Relationen (Beziehungen) kommt in mannigfach erscheinenden Verhalten zum Ausdruck, mit denen das charakteristische Merkmal der „gesellschaftlichen Verhältnisse“ gebildet wird.

3 BVerfG, 2 BvR 1877/97 vom 31.3.1998, Absatz-Nr. (1 - 101), „Maastricht-Vertrag“

4 Der Umfang politischer Gestaltungsmacht der Union ist - nicht zuletzt durch den Vertrag von Lissabon - stetig und erheblich gewachsen, so dass inzwischen in einigen Politikbereichen die Europäische Union einem Bundesstaat entsprechend - staatsanalog - ausgestaltet ist.“ BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. (1 - 421)

5 Artikel 79 (Änderung des Grundgesetzes) Abs. 2 und 3 betreffen Änderungen und Ergänzungen gemäß Artikel 23 Abs. 1.

6 Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland
Josef Isensee und Paul Hübner, C.F. Müller Juristischer Verlag Heidelberg 1992

7 ebenda

8 „Lissabon-Vertrag“

9 Es verwendet mit „Identität“ einen Begriff, welcher zeigt, dass es hier um eine unzerstörbare Substanz geht: um die Substanz, die aus der obersten Stufe der Hierarchie der Wertordnung des Grundgesetzes besteht. (Integrationsverantwortung und Verfassungsidentität – Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, Dr. Gero Kellermann Juli 2009

10 BVerfG, 2 BvR 1390/12 vom 12.9.2012, Absatz-Nr. (1 - 319), „Lissabon-Vertrag“

11 ebenda

12 ebenda

13 Verfassungsbeschwerden gegen demokratisch legitimierte (Mehrheits-)Entscheidungen sind – ob gewollt oder nicht – Kritik am herrschenden Verständnis von Demokratie.

14 BVerfG, 2 BvR 1877/97 vom 31.3.1998, Absatz-Nr. (1 - 101),

15 BVerfG, 2 BvR 1877/97 vom 31.3.1998, Absatz-Nr. (1 - 101), „Maastricht-Vertrag“

16 ebenda

17 ebenda